Zeitreise

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Vergangenes Wochenende litt ich an meinen mir typischen "Minuten", die nicht oft aber gelegentlich mal auftreten können. An jenem Sonntag war ich glücklicherweise in der Lage diesem Drang nachzugeben und diese 70km zu meinen Kaiserbergen zu fahren.

Es sind 70km unendlich erscheinende Landstrasse, die an diesem Tag zusätzlich noch durch ein schiergar undruchdringbar erscheinendes Grau sich fast bis zur Unendlichkeit ausdehnten.
Irgendwann kommt auf dieser Strecke der Punkt bis zu dem sich die Strasse in einer langgezogenen Linkskurve auf die letzte Anhöhe wie Kaugummi gezogen hat und mit einem Schlag sind die drei Kaiserberge vor dem Albtrauf zum Greifen nahe. Ich erinnerte mich an dieser Stelle an ein Gefühl, das mich immer als Kind überkam, wenn ich meine alte "Heimat" wieder einmal sah auf einer dieser Familienfahrten auf die Schwäbische Alb, ein Gefühl das ich heute immer noch kenne und das mich jedesmal überkommt, sobald die Alpengipfel kurz hinter München oder nach Ulm sich aus dem Morgendunst erheben und das ich nur als Rauschen in den Ohren, ein Sirren im Kopf und Tränenexkretion in den Augen umschreiben kann, das ich gleichsetze mit Ohnmacht vor Berührung.

In engen aber schwungvollen Kurven folgt die Strasse dann den letzten Höhenmetern auf den Rechberg, der Ort an dem ich mit Sicherheit die unbeschwertesten Tage meiner Kindheit verbracht habe. Ich weiss nicht, wann ich das letzte Mal hier oben gewesen bin, ich erinnere mich an einen Fahrradausflug, den ich einst mit meinem Bruder hierher gemacht habe, der aber mittlerweile auch etliche Jahre zurückliegt und ich entsinne mich an Nachtfahrten aus dem Stuttgarter Raum durchs Filstal, die mich auch mehrfach auf den Rechberg in dunkelster Nacht auf der Durchreise geführt haben und jedesmal ist dieses Rauschen in meinen Ohren, Augen und Nase da, welches für mich dieses vertraute, heimatliche Gefühl ist.

Mein Wagen folgt der Ortsstrasse aus Vorderweiler heraus auf Hinterweiler zu, an der alten Raiffeisenbank bleibe ich kurz stehen und lasse meinen Blick meinem alten Schulweg folgen, der Burg Hohenrechberg zu. Fast 25 Jahre ist das mittlerweile her... Schliesslich parke ich direkt vor dem alten SChulhaus der SCherr-Grundschule, die Fensterreihe rechts unten in dem "Neubau" war der Klassenraum in dem ich ein Jahr lang gebannt dem Unterricht meines Vaters folgte. Und ein Jahr, in dem ich neben meiner damals grossen Liebe sass.

Hinter dem Schulhaus beginnt der Spazierweg, der jahrelang sonntäglich der Familienspazierweg war und dem unzählige unserer Gäste schwitzend folgen mussten, hinauf zur Burg Hohenrechberg und noch weiter schliesslich bis zur Kapelle Hohenrechberg. Vom höchsten Punkt hier oben lasse ich meinen Blick schweifen über Waldstetten, den Stuifen, erkenne unter mir in Vorderweiler das Dach jenes Hauses in dem wir zuletzt wohnten, weiter über das Elternhaus von Phillip, "In der Breite", die Pateneltern meines Bruders bis weit Richtung Schurrenhof. Über dem Filstal lichtet sich im Augenblick der dichte, graue Regenvorhang und weiter in Verlängerung auf Stuttgart zu scheint glutrot die Abendsonne. Irgendwo in dieser Richtung blitzt am Horizont kurz ein weisser Flugzeugbauch auf, dann entschwindet er wieder in den roten Sonnenlichtfluten. 'Komisch' denke ich, 'alles sooo vertraut und doch soweit weg!' und lasse mich von diesem Gedanken wieder den Pfefferweg heruntertragen und weiter durch die kleinen Strässchen und Wege des Dorfes.
Plötzlich sind sie da, Namen, Geschichten, Begebenheiten, so intensiv, dass ich bei manchen das Gefühl nicht loswerde, es könne gestern erst geschehen sein. Jede Strassenecke, jedes Haus hat plötzlich Namen, hier wohnte Jürgen mit der progressiven Muskeldystrophie von dem meine Schwester das gelbe Fahrrad geschenkt bekam als er selbst es nicht mehr fahren konnte, hier der Herr Maier, der bei dem Brand im Park als erster mit seinem Gartenschlauch losgewetzt ist, dort unser Bauer bei dem wir Milch und Sprudel gekauft haben, hier die Sandra in die ich ein wenig verliebt war, aber es nicht zugeben konnte, weil mein Herz ja in Wirklichkeit für eine ganz andere schlug, da in diesem Mehrfamilienhaus der Michael mit seiner Familie, den ich seit dem Kindergarten befreundet gewesen bin, dessen Platz aber dann der Ralf in meinem neuen Heimatort eingenommen hat weil der ihm so ähnlich war, hier hinten einst die Katja mit der ich im letzten Jahr im Kindergarten als Bräutigam Vogelhochzeit gefeiert habe, was ich aber meiner anderen Liebe nie eingestanden habe, denn die kam erst nach dem Kindergarten zu uns in die Schule und sie wollte ich nicht damit eifersüchtig machen. In dem baufälligen Haus unten an der Ecke wohnten die Türkenkinder und mein Vater als unser Lehrer war immer sehr bedacht darauf sie mit in de Klassengemeinschft zu integrieren, was aber nicht sehr einfach war, denn ihre Bräuche und Sitten und auch dieser ganz eigene Geruch der von ihnen ausging, war uns Dorfkindern viel zu fremd. Zwischen den beiden grossen Dorfstrassen entdecke ich das prächtige Haus in dem Sabine gewohnt hat, ein Einzelkind aus wohlbehütetem besserem Hause, die sich aber in ihrer Aufregung mehrfach im Unterricht in die Hose gemacht hatte.

Die Strassen wirken an diesem Sonntagabend leer und verlassen, die meisten Fenster starren mich schwarz und einsam aus der sie allmählich umschliesenden Dunkelheit an. Enttäuschung macht sich in mir breit, ich erinnere mich an das alles viel lebendiger, farbiger, vielleicht aber liegt es an meinen Augen die das alles mittlerweile weniger kindlich gross als erwachsen und eng sehen.

An einigen Türen habe ich den Drang immer wieder auf die Klingelschilder zu sehen, wer hier wohl jetzt wohnt? Aber ich kann ihm wiederstehen, ich kann wiederstehen auch darauf zu drücken und zu sagen:'Hallo, ich lebe auch noch!', dieses Recht habe ich nicht und ich weiss nicht ob es hier überhaupt jemanden interessiert. Es ist viel zu lange her.

Schliesslich bleibe ich vor einem Haus stehen, das mir besonders leer erscheint, mit seinen hohen und hohlen schwarzen Fenstern starren das Wohn- und das Esszimmer in Richtung meiner alten Schule. Soviel Trauer wie ich dabei empfinde, dass es mir fast das Herz zerreisst, ich kam eigentlich deswegen heute hierher fiel mir bei seinem Anblick dann ein, auch wenn ich es mir bis dahin nicht eingestehen konnte oder wollte. Ein grosses Missverständnis auf meiner Seite, das alles zunichte gemacht hat, das ich sehr bereue wobei ich keine Chance sehe mich jemals wieder erklären und entschuldigen zu können; es ist einfach vorbei, denke ich mir.

Regen kommt auf, der Wind wird stärker, die Sonne ist mittlerweile hinter den Regenwolken und der Erdkrümmung verduftet, ich denke an Aprilwetter als ich wieder ins Auto steige. Schade, das was ich herausfinden wollte ist mir wieder verborgen geblieben, vielleicht muss diese Vergangenheit, auch wenn sie noch so schön für mich war, weiterhin einfach ruhen.
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